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«Zürich ist nicht New York»

Ida Nogara ist seit 1958 an der Heerenschürlistrasse 29 daheim.

Story by Stiftung PWG February 15th, 2017

Schwamendingen, in einer Parterrewohnung an der Heerenschürlistrasse 29. Plakate von Le Corbusier, Mies van der Rohe und Frank Lloyd Wright hängen an den Wänden. Eine von Ida Nogara und ihrem Mann selbst gezimmerte vierstöckige Puppenstube sticht ins Auge. Mit frechem Fransenschnitt, peppigem lila Shirt und einem herzerwärmenden Strahlen sitzt Ida Nogara in der kleinen Küche beim Kaffee - mit dabei ist Isa, eine ihrer beiden Töchter. Stützen im Alltag sind auch die Nachbarn Frau Gyr und Herr Gfeller, die ihr immer morgens einen Kaffee vorbeibringen.

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«Was? Schwamendingen?»

«Im Vergleich zu einem CEO sieht mein Alltag beschaulich aus, obwohl ich mich jeden Morgen der NZZ widme», sagt die wohl älteste Mieterin der Stiftung PWG. Lesen und Literatur haben die 95-Jährige das ganze Leben lang begleitet. Früher, als sie noch mobiler war, ist sie oft ins Filmpodium, ins Museum Rietberg oder ins Kunsthaus gefahren, hat Filme und Ausstellungen besucht. Als Architekturliebhaberin ist sie mit Isa auf den Spuren von Frank LIoyd Wright durch ganz Amerika gefahren. Wenn sie könnten, die beiden würden morgen die Koffer packen. Nach der endlosen Weite, der unverbauten Natur und der Freiheit sehnt sich Ida Nogara heute vielleicht mehr denn je.


«In Gedanken begegne ich immer noch Wölfen in der kanadischen Wildnis, schwimme mit Walen in den Weltmeeren und fliege mit Schwälblein durch die Luft.»

Zurückdenkend an die Reisen blickt sie aus dem Fenster. «Diese Birke dort hat mich so manches Jahr begleitet und erfreut. Es ist eine krumme Birke. Was nach Schwamendingen kommt, ist anderswo wohl nicht gut genug.» Bereits 1958, als Ida Nogara und ihr Mann hierherzogen, hatte Schwamendingen den Ruf einer gesellschaftlichen und kulturellen Einöde. «Ich war damals in Erwartung und freute mich sehr auf die moderne 3-Zimmer-Familienwohnung im Grünen.» Nachdem sie allerdings eingezogen waren und Besuch kommen sollte, waren die Reaktionen alle ähnlich: «‹Was? Schwamendingen?›, fragten die Leute, und dann folgte betretenes Schweigen.»

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Dann stand das Haus zum Verkauf

«Damals haben wir 232 Franken Miete bezahlt. Mein Mann hatte einen Lohn von 800 Franken.» Nicht gerade viel, und doch konnte sich Ida Nogara ab und an etwas Besonderes leisten, im Heimatwerk oder im Pastorini. Einiges davon steht heute noch in der Wohnung. Nogara blickt um sich und sinniert über viele schöne Jahre hier drin. Das 1957 erbaute Mehrfamilienhaus habe immer unter einem guten Stern gestanden, auch was Besitzer und Verwalter betrifft. Bis vor vier Jahren: Da stand das Haus unerwartet zum Verkauf. Eine grosse Aufregung unter der Mieterschaft und unzählige Besichtigungen von Interessenten folgten. Was wohl mit dem Haus passieren würde? Ob sie bleiben darf?

Frau Wirz, die damalige Eigentümerin, verkaufte die Liegenschaft an die Stiftung PWG. «Wer hätte 1985, als ich bei der städtischen Abstimmung über die PWG ein ‹Ja› in die Urne warf, gedacht, dass ich dereinst dank dieser Stiftung in meiner Wohnung bleiben kann.»


Für Nogara war der Verkauf an die Stiftung PWG ein Riesenglück: «Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich als hochbetagte Mieterin weiterhin selbstständig hier leben darf.»

Und sie ist froh, dass das Haus sanft auf Vordermann gebracht wurde und nicht einem Neubau weichen musste, so wie vielerorts in der Stadt. In die Jahre gekommene Siedlungen werden abgerissen und durch grössere ersetzt. «Diese Neubauten haben mehr Fläche und bieten doch weniger Raum für den einzelnen Menschen», bemängelt Nogara die zunehmende Verdichtung. Tochter Isa ergänzt: «Moderne Architektur kann durchaus schön sein, aber man müsste sie mit dem Rendering Tool auseinanderziehen.»

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«Untergehenden Völkern entschwindet zuerst das Mass.»

«Früher war im Quartier mehr Lebensfreude und Offenheit spürbar», findet Ida Nogara. Das Wachstum brachte Anonymität. Heute fühlt sie sich oft fremd hier. «Alles verändert sich, auch mein Schwamendingen, welches sich kaum merklich, aber stetig gewandelt hat in all den Jahren. Freiräume werden nach und nach baulich verdichtet. Wo einst charmante Reihenhäuser mit verspielten Vorgärten standen, steht heute eine moderne Siedlung, steril und kalt. Auf dem Raum, wo einst zehn Familien lebten, leben heute fünfzig. Ich weiss nicht, ob das ein Fortschritt ist oder dem einzelnen Menschen schadet.


Es gibt so viele psychisch kranke Menschen, vielleicht weil alles so ineinandergepfercht ist? Raum und Weite fehlen.»

Wenn sie sich Zürich anschaut, stellt sich Nogara die Frage nach einer gesunden Stadtentwicklung. Für den Prime Tower findet sie lobende Worte: Er stehe am richtigen Ort und zeige, dass es in Zürich durchaus überlegte moderne Architektur gebe. Der Standort der Kunsthauserweiterung passt ihr dagegen gar nicht: «Die erhabenen Bäume hätten erhalten bleiben sollen, ebenso die Backsteinbauten. Müssen wir nicht achtsamer mit unserem Boden und der Natur umgehen, genügsamer und bescheidener werden? » Überhaupt: Expansion und Wachstum sollten mit Bedacht geplant werden. «Zürich ist nicht New York und hat auch nicht so viel Platz wie China für weitere Türme.» Dazu fällt ihr folgendes Zitat ein: «Untergehenden Völkern entschwindet zuerst das Mass.»

Und genau diese Gefahr drohe Zürich: «Solange die Menschen im Arbeitsleben eingespannt sind, realisieren sie weniger, was um sie herum geschieht, und verkraften die vielen Menschen. Aber danach ... Die Stadtplaner und Politiker müssen sorgfältig analysieren, unter welchen Bedingungen wir glücklich und gesund bleiben.»

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Footnote: Text The Communication Butler | Foto Ralph Hut | Geschäftsbericht 2015
Heerenschürlistrasse 29, Zürich, Schweiz